Stillgestanden! Und ab zur Musikkritik! Unser Lieblingveranstalter und Freigeist Berthold Seliger bringt in seinem Pressrundbrief 6/15 mal wieder Wahres über deutschen Musikjournalismus. Lesen und schmunzeln …Wir zitieren (und verweisen auf Seligers formidablen Newsletter):
Bei der Nachberichterstattung zum Berliner Patti Smith-Konzert in den örtlichen Radiostationen ist mir wieder einmal aufgefallen, daß als Begutachtungskriterium für ein Konzert Pünktlichkeit ein entscheidendes Kriterium der hiesigen Musikjournalisten geworden ist, etwas, das man in keiner englischen oder französischen Publikation findet. Rock’n’Roll? Punkrock? Da wären mir viele wichtige Dinge eingefallen… in Deutschland allerdings ist wichtig am Rock’n’Roll: Pünktlichkeit! Wer hätte das gedacht.
Inforadio: „Patti Smith, die um 20 Uhr 15 pünktlich die Bühne betritt.“
Radio Eins: Moderator: „Wie ist es bei so einer Legende wie Patti Smith, hat die pünktlich angefangen?“ Konzertkritiker Helmut Heimann: „Relativ pünktlich. Also nicht um Punkt acht, aber um zehn nach acht oder so gings los… das ist wenn Künstler, die ein gewisses Alter haben, und das Publikum dann auch schon eher gesetzter ist… die meisten müssen am nächsten Tag arbeiten, dann geht es pünktlich um acht los, und dann ist man auch um elf oder so zuhause oder auf dem Nachhauseweg…“ und schon war die erste Minute der „Konzertkritik“ verplempert.Mal jenseits der Frage, was nun genau dagegen sprechen soll, wenn ein Künstler oder eine Künstlerin das Publikum in einer ausverkauften Halle an einem heißen Sommertag nicht stundenlang warten läßt, interessiert mich an der „Pünktlichkeit“ natürlich das permanente Umherwedeln mit sehr deutschen Sekundärtugenden – und das hat durchaus System, ständig lesen wir im Musikjournalismus hiesiger Provenienz, daß ein Album „pünktlich“ erschienen sei (pünktlich zum Sommeranfang, „pünktlich zum Herbsteinleuchten“, „pünktlich zum Sommerende und zum Anfang der Clubsaison“, zur Tournee, zu wasauchimmer, Hauptsache: pünktlich! der deutsche Rockmusiker ist pünktlich! das zeichnet ihn aus).
Es sind die soldatischen Tugenden, die im deutschen Popjournalismus unserer Tage munter auferstehen – neben Pünktlichkeit ist das Marschgepäck wichtig – Bands haben ihr neues Album „im Gepäck“, manchmal aber auch noch andere Künstler: „Als Special Guest haben die Musiker BAP-Legende Wolfgang Niedecken im Gepäck.“
Oder der deutsche Rock- und Popmusiker macht Meldung, so jedenfalls will es der Popjournalismus: Der Künstler meldet sich mit einem neuen Album zurück…
Stillgestanden! Gefreiter.. äh… nein: Rockmusiker XYZ meldet sich pünktlich mit neuem Album im Gepäck zurück!(…)
Wir erlauben uns, das „amtliche Album“ zu ergänzen, denn ein echter deutscher Musikkritiker schreibt natürlich von „amtlichen“ Veröffentlichungen, gerade im Heavy Metal Segment ist diese Formulierung quasi Standard …