Plädoyer für ein Leben im Heute und Morgen – Grenzdebile Nostalgie, auf das Band gelegt an der Kasse4.
Wer mit der Social-Media-Plattform Facebook vertraut ist, kennt sie: Bilder und Texte, die, mal mehr, mal weniger lustig, behaupten, dass früher alles besser war im Zeitalter der Musi-Cassette und des Raider-Schokoriegels. Damals, als …… das Geld noch was wert war und mit Deutschen Markstücken bezahlt wurde (den „harten“, „echten“ und nicht mit dem Teuro, muahaha). Ein Klick auf „Gefällt mir“ und dann natürlich auf „Teilen“, und man ist Mitglied in der Partei der reaktionär behaglich-wohligen Erinnerung an vergangene Tage.
Wir kotzen und wünschen uns in solchen Momenten nicht nur den „Dislike“-Button, sondern am besten noch gleich eine Strahlenkanone. Besonders eklig wird es dann, wenn diese, meist grafisch eher 1.0 als 2.0 gestalteten Mini-Plakate und Texte noch den Eindruck erwecken, dass jeder, der diese Lebensumstände und ihre typischen Produkte der Konsumwelt aktiv und nicht mehr nur vom Hörensagen miterlebt hat, etwas besonders sei. Ein Überlebender, einer der ganz Harten, ein Wissender und Weiser, etwas Besseres halt als all die jungen Unwissenden. Die „Twix“, das mittlerweile viel schlechter schmeckt als damals, gell, fressen. Und das tun sie oft.
Das alles ist tatsächlich so dumm, wie es klingt. Raider, ein Telefon mit Wählscheibe, die vielgeliebte Mark, die Cassette, das Nogger-Eis und die Pril-Blume auf der hellblauen Kachel über dem Spülbecken in der Küche als Sinnbilder für die goldene vergangene Zeit; garniert mit dem Jammern über den Umstand, dass früher ein Mittagessen zehn Mark kostete und heute zehn Euro – fertig ist der Kuchen, dessen Genuss jeden Vernunftbegabten zum Kotzen bringt. Wer sich damit rühmt, verkennt sträflich, was ihm der liebe Gott oder wer auch immer mit seinem Leben in diesen Tagen, Stunden und Wochen geschenkt hat.
Die gute alte Zeit? Dass wir nicht lachen. Die meisten von uns, alle unsere Freunde und Bekannten eingeschlossen, haben das Glück, heute wie damals privilegiert zu leben, Freiheit zu besitzen – also auch die Freiheit, Dinge falsch zu machen – in den Urlaub zu fahren, ein Auto vor der Tür, Kinderwägen im Wert von nur noch knapp dreistelligen Euro-Beträgen, Haustiere, iPhones, iPads und Kaffeevollspackenautomaten.
Woher kommt also das Sentiment, was macht die Protagonisten der „Früher war alles besser“-Welle so sicher, dass das Heute und erst recht das unbekannte Morgen schlecht ist? Es ist die Langeweile mit dem eigenen Leben und die Undankbarkeit für das Erreichte und den Lebensstandart hier in Dötschland, wie der seltsamerweise gar nicht vermisste Altkanzler Helmut Kohl damals immer zu sagen pflegte. Damals, in der guten alten Raider-Zeit, als wir alle unsere Zungen in leckeres Noggereis steckten.
Helmut Kohl? Da war doch was, richtig. Wer grenzdebile Raider-Nostalgiker auf den Namen Kohl anspricht, erntet meist gleichgültige Reaktionen, denn die differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist nicht die Stärke der Retrofaschisten. Politik ist das, was man im mittlerweile von Tommy Hilfiger designten eigenen Geldbeutel hat, Zufriedenheit das, was in der Eistruhe liegt, was man kennt und ohne das Risiko, etwas neues auf der Zunge zu schmecken, konsumiert.
Also bohren wir weiter in den Wunden der Vergangenheit. Tschernobyl? Wackersdorf und brutale Polizeigewalt? Chemotherapien in den Achtziger Jahren? AIDS-Tote? Die Katholische Kirche, die damals noch mehr zu sagen hatte und besser verschweigen konnte, was perverse Verbrecher unter ihrem Mantel an Wehrlosen verübten? Eine Gesellschaft, die einen General der Bundeswehr dazu brachte, zurückzutreten, nachdem er sich als homosexuell geoutet hatte? Einen wegen Trunkenheit am Steuer verurteilten Landesminister? Hoyerswerda, brennende Asylantenheime. Sandoz. Schikane im Wehrdienst, der zwar damals noch niemand in den Tod in fernen Ländern schickte, dafür aber in Deutschland nervte? Der Jugoslawienkrieg? Ozonloch? Asbest? Autos ohne Katalysator? Ach ja doch, damals kostete der Liter Normalbenzin aber nur Einehartemarkzwanzig und heute sind es … War schon schön damals, in der guten alten Zeit.
Und was für tolle Musik damals noch im Radio lief! Samantha Fox, die „Touch Me“ stöhnte, geilie Kylie, die „I should be so lucky“ trällerte, Hartmut Engler, der Unschuldige ins Abenteuerland entführen wollte und über die Geburt eines Babys sang, dass seine Mutter es schon rausschütteln werde. Der Rhythmus ist ein Tänzer, alles was er will, ist ein weiteres Baby, Maria Magdalena, die Kreatur der Nacht, das Schiff voller Narren, ich leg Dich in ein Bett aus Rosen. Im Kino dann Kevin Costners Robin Hood und Sylvester Stallone in den großen Sprechrollen seiner Karriere, sprich, der „Rocky“-Reihe („ÄÄÄÄÄÄdddriäään! ÄÄÄÄÄÄdddriäään!“). Im Fernsehen Frank Elsner und Thomas Gottschalk, Hugo Egon Balder und die wackelnden Brüste der großen Charakterdarstellerinnen in unserer Lieblingssendung „Tutti Frutti“.
Hach, da holen wir uns doch gleich ein Sinalco aus dem Kühlschrank oder eine Bluna. Zisch. Wie gut das doch schmeckt, wie früher, gell? Die Erkenntnis, dass damals nichts besser war, sondern allerhöchstens nur anders, dass die Welt komplexer und damit auch die Antworten auf die Fragen nach dem Warum und Wieso, ist schmerzhaft und für viele Noggernostalgiker und Retrofaschisten der Grund, sich nicht zu genau mit dem Hier und Jetzt zu beschäftigen. Getreu dem Motto, was kümmert uns die Eurokrise, wir waren ja immer schon für die Beibehaltung der guten alten Mark. Damals, als wir noch jung waren und in unserem Blut mehr als Sinalco.
Die Beschäftigung mit dem Hier und Jetzt würde sich aber lohnen. Bahnbrechende Erfolge in der Medizin, die steigende Lebenserwartung, die nun endlich reale Perspektive eines atomkraftfreien Deutschlands, Frieden in Europa seit bald mehr 70 Jahren, an den Rand der Wirkungslosigkeit gedrängte politische Extremisten aus dem linken wie rechten Lager, das nahende Ende der atomaren Bedrohung, nachhaltig agierende Unternehmen – darüber freuen wir uns und beschäftigen uns lieber mit dem Hier und Jetzt und dem, was Morgen sein wird.
Denn es wird besser sein als das Open-Air-Konzert von Bon Jovi, das in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Freiluft-Musikantenstadel ohne Karl Moik für Mittdreißiger bis Mittvierziger. Sie haben es nur nicht gemerkt. Viel besser. Wer mit Mut und Hirn mitmacht (nicht bei Bon Jovi!) wird merken, in welch‘ geiler Zeit wir eigentlich leben und wie unendlich dankbar wir dem Gott, an den wir gegebenenfalls glauben, dafür sein dürfen. Was war, war und an den wenigsten Dingen von damals lohnt es sich, festzuhalten.
(Copyright Foto: Langnese)