Qualität kann auch mit kommerziellem Erfolg gewürdigt werden. Wenn etwas Erfolg hat, ist es per se nicht schlecht, es sei denn, man a) lebt in Deutschland oder b) arbeitet für das Feuilleton einer deutschen Publikation. Auch a) und b) ist möglich. Doch dazu später, zunächst ein paar Worte zu der wunderbaren „Millenium“-Trilogie, hierzulande mit „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergebung“ getitelt.
Verblendung ist mit Sicherheit der stärkste der drei Romane rund um den Journalisten Mikael „Kalle“ Blomquist und die Cyperpunkerin Lisbeth Salander. Der Roman lebt von der klaustrophobischen Atmosphäre auf der Insel, auf der er spielt, vom Zwiespalt des Protagonisten – Ex-Starjournalist und noch lange nicht Lohnschreiber – und von einer bizarren-mysteriösen Geschichte. Die Art und Weise, wie Larsson während zugegebenermaßen langen 400 Seiten den Leser im Dunkeln tappen läßt, bevor er dann mit einem einzigen Satz („Und dann öffnete sich das Tor zur Hölle“) die Spannungskurve jäh nach oben reißt, ist schlichtweg genial und die knapp zweihundert Seiten nach diesem Satz ein Hochgenuss, bei dem man mit offenem Mund Seite um Seite verschlingt. So ist das und nicht anders. Das ist nämlich gerade nicht eine der „zentralen Konstruktionsschwächen“, wie auf SPON Sebastian Hammelehle anläßlich der Ausstrahlung der Larsson-Filme im Free-TV schrieb:
Der für die Aufklärung des Falls entscheidende Moment ist eine der zentralen Konstruktionsschwächen von Stieg Larssons Buch – warum hunderte Seiten Vorgeschichte und hunderte Seiten Auflösung, wenn es so einfach geht?
Das muss man eigentlich nicht kommentieren, die Kasse4 tut es dennoch: Ja, warum eigentlich, Herr Hammelehle? Damit SPON die Demarkationslinie zwischen der Masse und der Elite entlang der Brandstwiete ziehen kann? Schließlich sind ja
„Stieg Larssons linksliberale Schwedenthriller die literarische Antwort auf Ikea“.
… und Sätze wie dieser nichts weiter wie intellektuelle Onanie und der krampfhafte Versuch, originell und um Beifall heischend zu formulieren. Denn geht es nicht vielmehr darum, dass der lange Weg zur Lösung des Falls der Komplexität geschuldet ist und nicht per Drive-Through-Schalter mitgenommen werden kann? Warum sollte das Schicksal der Harriet Vanger 38 Jahre lang ungeklärt geblieben sein, wenn die Lösung eine einfache wäre?
Jochen Hieber macht es in der FAZ übrigens auch nicht durchgehend besser, denn er schreibt:
Larsson (…) mutet uns da ein Serien-, mehr noch: ein Massenmörder-Duo zu, dessen Taten angeblich über vier Jahrzehnte hinweg nahezu unbemerkt bleiben – ein Witz angesichts der Spuren, die sie hinterlassen.
Toll begründet, Respekt. Ein Witz soll das sein? Alles andere als das, dass Mordfälle oft genug lange nicht aufgeklärt werden, soll es ja schonmal geben.
Verdammnis ist dann ein ganz anderer Roman: Offener, erzählender, rollt er Lisbeth Salanders Vergangenheit auf und konzentriert sich ganz auf sie. Ein typischer Brückenroman, der Spaß macht und sehr gut lesbar ist. Aber auch eben ohne den Reiz des Besonderen, wie ihn „Verblendung“ hat. Dafür mit sehr viel Lisbeth Salander, Larsson schlachtet die Figur genüßlich aus und man folgt ihm fasziniert.
Vergebung bringt die Trilogie nach mehr als 1600 Seiten schlüssig zu Ende, ohne dabei große Fehler zu machen. Allein das ist eine starke Leistung. Allerdings erhält der Leser wiederrum einen ganz anderen Roman, der mit Teil eins und zwei nur noch die Hauptdarsteller gemein hat. Denn die Agentenstory, die er erzählt, ist eher im Lager eines Tom Clancy zuhause als in der schwedischen Thriller-Welt, in der man sich eigentlich wähnt. Bei Jochen Hieber liest sich das so:
Im dritten Teil, also in „Vergebung“, werden wir schließlich mit einer schrecklich unglaubhaften Gruppe schrecklich alter Männer konfrontiert, die sich gegen den schwedischen Staat verschwören und gegen die jene realen „Mumien“ aus unserem Auswärtigen Amt quicklebendig erscheinen.
Das kann man so sehen, aber generell findet die Kasse4 es schrecklich unglaubhaft, dass die Leitmedien dieses Landes nur selten von der Meinung abweichen, dass alles, was sich verkauft, von minderer Qualität und mit irgendeinem Haken versehen sein müsse. Larsson hat großartige Bücher abgeliefert, die sich zurecht millionenfach verkauften und verkaufen. Wenn es einen Haken gibt, dann den, dass sich der Autor erlaubt hat, innerhalb einer Triologie drei unterschiedlich gestaltete Romane untergebracht zu haben: Einen Krimi, einen sozialkritischen Roman und einen Agententhriller. Oh, wie schlimm, gell? Böser Larsson! Über die Filme soll hier ein andermal gerichtet werden. ms
Gratuliere!
1. Du hast glänzend vorgetragen, wie die Leitmedien von ihrer (materiellen) Abhängigkeit leben.
2. Du hast ein feines Sümmchen Kritik zum Gehabe der Main-Kritik zusammengetragen. Die Lektüre tat sehr wohl.
Gern gelesen und beste Grüße
ema
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